Dr. Annette Nietfeld: Die aktuelle Energiepreiskrise hat dazu geführt, dass der Strommarkt in den vergangenen Wochen intensiv in den öffentlichen Fokus gerückt ist. Auf nationaler und europäischer Ebene wird eine Reform des Energiemarktdesigns diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
Dr. Daniel Chatterjee: Der Energiemarkt befindet sich mitten im Umbruch. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu sein. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergiebedarf liegt in Deutschland bei rund 20 Prozent. Das heißt, wir müssen in den nächsten 22 Jahren die restlichen 80 Prozent auf Erneuerbare umstellen. Neben Geschwindigkeit bei der Umsetzung von Projekten benötigen wir auch einen geeigneten regulatorischen Rahmen. Für die Transformation der Energiemärkte und eine zuverlässige und stabile Energieversorgung braucht es Flexibilitätsoptionen, Energiespeicher und Grundlastabsicherung. Das heißt, wir brauchen neue Gaskraftwerke, die zukünftig auf Wasserstoff umgestellt werden können und Flexibilitätsoptionen wie Batteriespeicher oder Elektrolyseure zur Absicherung von Fluktuation der Erneuerbaren. Die große Kunst besteht darin, diese unterschiedlichen Komponenten miteinander effizient zu kombinieren.
Dr. Annette Nietfeld: Wie kann das gelingen?
Dr. Daniel Chatterjee: Eine wichtige Rolle werden dezentrale Lösungen spielen, z.B. sogenannte Microgrids. Das sind dezentrale Energieversorgungssysteme, die aus mehreren Komponenten wie Batteriespeicher, Photovoltaik- oder Windkraftanlagen sowie Gasgeneratoren (zukünftig auch Wasserstoff) bestehen. Auch ein Elektrolyseur oder eine Brennstoffzelle können daran angeschlossen werden. Diese können im Zusammenspiel für Frequenzregulierung sorgen, Spitzenlastausgleich oder auch den Eigenverbrauch erhöhen. Mit Hilfe eines Microgrid Controllers lässt sich ein solches System optimal steuern und an die Bedürfnisse des Kunden anpassen.
Dr. Annette Nietfeld: Gibt es bereits viele von diesen Lösungen? Haben die sich am Markt schon durchgesetzt?
Dr. Daniel Chatterjee: Die Nachfrage nach solchen Lösungen nimmt immer mehr zu. Bei uns in Friedrichshafen z.B. können Sie ein solches Microgrid bewundern. Leider stellen wir fest, dass das aktuelle Energiemarktdesign solche Lösungen nicht fördert, sondern eher verhindert. Der derzeitige Energy-Only-Markt liefert keinen ausreichenden Anreiz für Investitionen in gesicherte Leistung und Sektorkopplungsanlagen sowie weitere Flexibilitätsoptionen.
Dr. Annette Nietfeld: Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden?
Dr. Daniel Chatterjee: Der Strommarkt und seine Mechanismen müssen weiterentwickelt werden. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass neben einem Kapazitätsmechanismus auch ein Flexibilitätsmarkt eingeführt wird. Es müssen Voraussetzungen für umfangreiche weitere Investitionen in dargebotsabhängige Erzeugungsanlagen ebenso wie in vielfältige Flexibilitätsoptionen in Form von Erzeugungs-, Speicher-, Sektorkopplungs- und auch Verbrauchsanlagen geschaffen werden. Denn Flexibilität wird und muss zunehmend zu einer Art Leitwährung der Energiewende werden.
Dr. Annette Nietfeld: Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben! Ich bin gespannt auf Ihren Austausch am ersten Konferenztag von ENERGIE.CROSS.MEDIAL 2023 am 28. Februar mit Herrn Professor Linke zum Thema „Dezentrale Wasserstoffproduktion als Voraussetzung für einen schnellen Markthochlauf“, bei dem Sie Ihre Gedanken dazu detailliert darlegen werden!