Anette Nietfeld: Herr Meyerjürgens, im vergangenen Jahr standen die Übertragungsnetzbetreiber im Fokus zu Fragen der Versorgungsicherheit und Systemstabilität. Doch weitere Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung und Cyber-Resilience kommen auf die Netzbetreiber zu. Wie können Netzbetreiber beides gewährleisten?
Tim Meyerjürgens: Das letzte Jahr und der Winter haben sehr deutlich gezeigt, dass wir beides können: Sehr schnell und agil auf Herausforderungen bei der Versorgungssicherheit und Systemstabilität reagieren und zugleich die langfristigen Ziele fest im Blick behalten und Transformationsprozesse weiter vorantreiben.
Klar bringt die Digitalisierung der Energiewirtschaft einige Herausforderungen mit sich. Wir sehen darin aber vor allem große Chancen. Zumal für die effiziente Integration erneuerbarer Energien und einen bedarfsgerechten Netzausbau auch schlicht die Notwendigkeit besteht, die Prozesse immer weiter zu digitalisieren. Ein Beispiel für die Chancen durch digitale Prozesse ist die Integration sogenannter „Flexibilitätspotentiale“ wie Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Batterieheimspeicher. Die systemdienliche Nutzung dieser aus Übertragungsnetzsicht eher kleinen Verbrauchseinrichtungen über digitale Prozesse bietet großes Potential für die Netzstabilität.
Frau Nietfeld: Sie erwähnen die Integration von Elektrofahrzeugen, doch welchen Beitrag können kleine Verbraucher wie Elektrofahrzeuge wirklich für die Netzstabilität leisten?
Tim Meyerjürgens: Unser zukünftiges Energiesystem hat einen hohen Bedarf an flexibel steuerbaren Verbrauchseinrichtungen, um Angebot und Nachfrage im Netz jederzeit ausgleichen zu können. Mit steigender Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors durch Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge wird das Flexibilitätspotenzial für diesen Ausgleichsbedarf drastisch ansteigen. Es ließe sich gut für die Stabilisierung der Netze nutzen – sei es für Regelreserve zur Frequenzhaltung oder für Redispatch-Maßnahmen im Rahmen des Netzengpassmanagements.
Wir haben dies auch bereits erfolgreich erprobt. Im Rahmen eines Projektes integrieren wir auf einer digitalen Plattform Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge in die Prozesse zur Netzstabilisierung. Die Ressourcen von Elektrofahrzeugen, stationären Batteriespeichern und Wärmepumpen, werden auf der Plattform durch Aggregatoren gebündelt und den Übertragungsnetzbetreibern zur Verfügung gestellt. Konkret konnten wir die Anbindung von bidirektionalen Elektrofahrzeugen für die Erbringung von Redispatch erfolgreich testen. Dies geschah dabei ohne Einschränkung der Mobilitätsanforderungen der Pilotkunden. Auch in aktuell laufenden Forschungsprojekten steht die Integration von Flexibilitätsoptionen im Fokus. Hier werden Elektroautos und Wärmepumpen in einem Haushalt zur Erbringung von Systemdienstleistungen eingesetzt, ohne die Kundenanforderungen einzuschränken. Ein nächster Schritt ist die Skalierung der Pilotprojekte.
Frau Nietfeld: Durch diese neuen Formen der Zusammenarbeit werden doch enorme Mengen an Datenaustausch notwendig sein?
Tim Meyerjürgens: Das ist richtig. Neue Datenmanagement-Prozesse werden für alle Energiemarktakteure wichtig. Ein Beispiel dafür ist das Ziel der Bundesregierung zur Integration von 15 Mio. Elektrofahrzeugen bis 2030. Dafür muss ein enorm wachsendes Datenvolumen auch sektorenübergreifend verarbeitet werden. Das kann nicht nur national angegangen werden, dazu brauchen wir im europäischen Energiemarkt europaweite Lösungen für einen standardisierten Datenzugang, -interoperabilität,- souveränität und Cyber-Resilience.
Mit zunehmender Dezentralisierung und der Zunahme der Anzahl an Marktpartnern brauchen wir auch die Integration von künstlicher Intelligenz in unsere Prozesse, um diese automatisiert ablaufen zu lassen. Dazu haben wir das Projekt „energy data-X“ initiiert, welches den Aufbau eines Energiedatenraumes in Gaia-X anstrebt. Die EU-Initiative zu Gaia-X fördert den Aufbau von dezentralen und offenen Datenräumen. Durch den Datenraum wird ein sicherer Datenaustausch zwischen allen Akteuren ermöglicht. Diese digitalen Lösungen werden einen großen Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung und zur weiteren Integration erneuerbarer Energien leisten.
Frau Nietfeld: Sie sprechen europäische Lösungen an. Welche politischen Veränderungen braucht es noch zur Hebung der digitalen Potentiale im Energiesektor?
Tim Meyerjürgens: Um die Potenziale der Digitalisierung zu heben, sind aus unserer Sicht regulatorische Anpassungen erforderlich. So ist beispielsweise in Deutschland die Teilnahme kleiner dezentraler Flexibilitäten am Redispatch-Prozess unter dem aktuellen Rechtsrahmen nicht möglich. Zur Erschließung dezentraler Flexibilitäten bedarf es eines ergänzenden marktlichen Ansatzes, damit die erforderlichen Flexibilitäten auch tatsächlich angeboten werden. Auch sind viele Voraussetzungen für eine digitale Marktkommunikation der Energiewirtschaft über einen Datenraum noch nicht geklärt. Dies sollte daher zunächst in einem Branchendialog entwickelt werden, der idealerweise politisch moderiert wird.
Frau Nietfeld: Tennet wird sich im Rahmen von ENERGIE.CROSS.MEDIAL 2023 im Rahmen einer Themensession zur Netzstabilität und Systemsicherheit beteiligen. Außerdem werden Sie zusammen mit TransnetBW den Themenblock „Flexibilität“ gestalten. Auf beide Beiträge bin ich sehr gespannt. Herr Meyerjürgens, danke für das Interview!