Interview mit Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt (Senior Energy Advisor, Baker McKenzie)
Dr. Annette Nietfeld: Herr Dr. Borchardt, viele, viele Jahre haben Sie für die EU-Generaldirektion Energy gearbeitet, zuletzt als stellvertretender Generaldirektor mit Zuständigkeiten für die Direktionen „Energiepolitik“, „Energiebinnenmarkt“ und „Erneuerbare Energien, Forschung und Innovation, Energieeffizienz“ und erst vor vier Monaten sind Sie ausgeschieden. Sie kennen sich deshalb also sehr gut in dem weiten Feld der europäischen Energiepolitik aus.
Der „European Green Deal“ wurde im Dezember 2019 von Frau von der Leyen ausgerufen. Bitte lassen Sie uns doch wissen, was genau damit gemeint ist. Ich habe den Eindruck, dass es dabei eigentlich vor allem darum geht, die bisherige Energie- und Klimaschutzpolitik fortzuschreiben und man einfach einen griffigen und attraktiven neuen Begriff in die Welt gesetzt hat.
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Der “European Green Deal” ist das Leitmotiv der von der Leyen Kommission. Dieser Begriff steht für die Ausrichtung sämtlicher EU-Politiken auf die Erreichung des prioritären Ziels, die EU bis 2050 CO2 neutral zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Zielerreichung selbst, sondern auch um die Entwicklung der notwendigen Instrumente und Investitionen, die zu einem Umbau der europäischen Wirtschaft führen sollen, der zukunftsträchtiges Wachstum, sichere Arbeitsplätze und “grüne” Technologieführerschaft in der Welt garantiert. Er ist vergleichbar mit dem Umbau der europäischen Wirtschaft vom Agrar- zum Industriestandort im 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert ist es der Umbau von einer auf fossile Energien gestützte Wirtschaft zu einer auf erneuerbare Energien gestützte Wirtschaft. Insofern ist es auch keine Fortschreibung der bisherigen Klima- und Energiepolitik, die eher in vertikalen Säulen operierte, sondern es soll nun ein integriertes Energiesystem geschaffen werden, das die gesamte Energiewertschöpfungskette erfasst, von der Erzeugung über den Transport bis zum Verbrauch.
Dr. Annette Nietfeld: Wie wird die unter der Überschrift „European Green Deal“ verkaufte Energiepolitik in den EU-Mitgliedstaaten aufgenommen und umgesetzt?
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Im Prinzip stehen alle 27 Mitgliedstaaten hinter dem “European Green Deal”. Alle grundlegenden Entscheidungen über die Zielsetzungen sind mit Einstimmigkeit getroffen worden. Dies beginnt mit der Entscheidung über das 2050 Ziel ebenso wie jüngst die Heraufsetzung des CO2-Reduktionsziels von 40% auf 55%. Allerdings ist klar, dass nicht alle 27 Mitgliedstaaten den gleichen Ausgangs- oder Startpunkt zur Erreichung dieser Ziele haben. Einige Mitgliedstaaten, die man als Vorreiter der Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energie ansehen kann, tun sich mit der Umsetzung leichter als Mitgliedstaaten, die noch sehr stark in der fossilen Welt verwurzelt sind und die für eine Umstellung mehr Zeit und mehr Fördermittel benötigen. Wichtig ist, dass alle Mitgliedstaaten nach dem, was sie objektiv leisten können, beurteilt werden, da nur so gewährleistet werden kann, dass alle Mitgliedstaaten den Weg der europäischen Energiewende gemeinsam gehen.
Dr. Annette Nietfeld: Finanzielle Zuwendungen sind immer ein funktionierendes Schmiermittel und kommen auch in diesem Zusammenhang zum Einsatz. Für wie wahrscheinlich halten Sie die These, dass die finanziellen Mittel von den jeweiligen Mitgliedstaaten zwar gerne genommen und für die Modernisierung verschiedener Bereiche der jeweiligen Volkswirtschaften eingesetzt werden, dies aber nicht bedeutet, dass die jeweiligen Länder auch hinter den Zielen des Green Deals stehen.
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Ich denke, dass beides zusammengehört. Ohne die Bereitstellung der erforderlichen Mittel werden die Ziele des Green Deals nicht erreicht werden können. Vor allem die Mitgliedstaaten, die ohnehin nicht zu den Reichsten in der EU gehören, haben die größten Anstrengungen zu unternehmen, die sie ohne finanzielle Unterstützung alleine nicht bewältigen können.
Dr. Annette Nietfeld: Die Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten sollen weniger CO2 emittieren, das ist ein zentrales Ziel des Green Deals, welches u.a. durch die Verwendung von Wasserstoff erreicht werden soll. Deshalb hat die Europäische Kommission eine europäische Wasserstoffstrategie erarbeitet. Daneben haben auch verschiedene Mitgliedstaaten jeweils nationale Strategien für Wasserstoff vorgelegt. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit und Koordination zwischen der EU und den einzelnen Mitgliedstaaten?
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Die Entwicklung einer europäischen Wasserstoffwirtschaft als zweites Standbein in einem CO2-neutralen Energiemix ist zu einem gemeinsamen Anliegen der Kommission und der Mitgliedstaaten geworden. Auch wenn heute noch nicht alle 27 Mitgliedstaaten eine eigene Strategie entwickelt haben, besteht Einigkeit über die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung. Die Kommission wird ihren Vorschlag für die Umsetzung der europäischen Wasserstoffstrategie im Oktober 2021 vorlegen, der dann von Rat und Parlament beraten und beschlossen werden muss, was allerdings nicht vor 2023 zu erwarten ist. Da die notwendige Entwicklung eines Marktes für Wasserstoff und der dazugehörenden Infrastruktur nicht bis dahin zu erwarten ist, ist es erforderlich, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die jetzt in die Entwicklung einsteigen wollen, wozu u.a. Deutschland, die Niederlande, Portugal, Spanien, Österreich, Polen gehören, ihre nationale Gesetzgebung entsprechend ausrichten. Damit es später, wenn die europäischen Regelungen beschlossen sind, nicht zu Verwerfungen kommt, ist es erforderlich, dass Kommission und Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten und sich laufend abstimmen. Dies geschieht, soweit ich es beurteilen kann, auch mit Erfolg.
Dr. Annette Nietfeld: Die EU-Mitgliedstaaten gewährleisten ihre gesamte Energieversorgung zu verschiedenen Zwecken z. Z. im Wesentlichen durch die Nutzung heimischer Rohstoffe wie Braunkohle und Erdgas und den Import weiterer Rohstoffe wie Mineralöl und Steinkohle aus aller Welt. Dies soll zukünftig nicht mehr möglich sein. Mit Blick auf die importierten Rohstoffe frage ich Sie, was diese Entscheidung für die exportierenden Länder z. B in Südamerika oder in der Golfregion bedeutet?
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Richtig ist, dass vor dem Zeithorizont 2050 die Importe fossiler Energieträger in die EU gegen Null gehen müssen, wenn wir Klimaziele erreichen wollen. Dies hat erhebliche Auswirkungen wirtschaftlicher und politischer Art auf unsere traditionellen Exportländer, die über den Zeitraum bis 2050 einen Ihrer wichtigsten Exportmärkte verlieren. Es ist deshalb besonders wichtig, den “European Green Deal” und die damit von der EU erwarteten Folgen für fossile Energieimporte zu benennen. Gleichzeitig sollte gemeinsam mit den betroffenen Drittländern das Potential ausgelotet werden, in welcher Weise diese Länder in dem sich wandelnden europäischen Markt Fuss fassen können. Eine Reihe unserer traditionellen Lieferländer, insbesondere die Länder der Golfregion, Norwegen und Russland, arbeiten bereits an eigenen Strategien zur Umstellung der ÖL- und Erdgasproduktion auf die Produktion von erneuerbaren oder klimafreundlichen Gasen, wozu auch der Wasserstoff gehört.
Dr. Annette Nietfeld: Bisherige Handelsbeziehungen werden also aufgelöst oder nicht verlängert und neue geschlossen. Denken wir daran, dass Deutschland entsprechende Kooperationen bezüglich Wasserstoffherstellung und -transport mit Australien und auch Ländern in Afrika anstrebt und im Rahmen von Pilotprojekten vorantreibt. Wie bewerten Sie diese Strategien und Projekte? Welche geostrategischen Implikationen sind damit verbunden?
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Aus meiner Sicht sollten in diesem Bereich nationale Alleingänge vermieden werden. Es sollte eine gemeinsame europäische Importstrategie entwickelt werden, unter der dann die jeweiligen Mitgliedstaaten ihre eigenen Lieferbeziehungen gestalten können. Man sollte auf jeden Fall vermeiden, sich erneut in energiepolitische Abhängigkeiten zu begeben, die langfristig die Versorgungssicherheit untergraben oder die EU “erpressbar” machen. Die Erfahrungen gerade auch in den letzten 10 Jahren mit Erdgasimporten aus Russland sollten dabei eine Lehre sein. Offene Märkte für Importe erneuerbarer Energien aus Drittländern ja, aber unter gebührender Berücksichtigung der Notwendigkeit der Sicherstellung der Versorgungssicherheit.
Dr. Annette Nietfeld: Finden Sie, dass die politischen Akteure in der EU und den Mitgliedstaaten die geostrategischen Implikationen ausreichend beachten?
Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Nein, aber das gilt nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Kommission. Immerhin arbeitet die Kommission an einem Konzept, das diese geopolitischen und geostrategischen Implikationen analysiert und entsprechende Handlungsalternativen aufzeigt.
Dr. Annette Nietfeld: Wie Ihrer Meinung nach die weltweiten Handelsbeziehungen im Kontext des Green Deals durch die europäischen und nationalen Institutionen ausgestaltet werden sollten, dies Herr Dr. Borchardt werden Sie uns anlässlich der Konferenz ENERGIE.CROSS.MEDIAL am 3. März 2021 vortragen. Darauf bin ich sehr gespannt. Danke für Ihre Bereitschaft dabei zu sein.