Interview mit Prof. Dr. Karen Pittel (ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) und Prof. Dr. Jürgen Renn (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte)
26. Februar 2021
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Annette Nietfeld: Herr Renn, die Energiewende ist ein wesentlicher Pflasterstein auf dem Weg zur klimaneutralen Gesellschaft. Zugleich fühlt sich der Weg dorthin unendlich lang an und manch einer fragt sich, ob eine solche Umwälzung überhaupt machbar ist. Sehen sie als Wissenschaftshistoriker in der Geschichte Beispiele vergleichbar großer Umwälzungen des Energiesystems?
Jürgen Renn: Historische Energiewenden haben sich über mitunter sehr lange Zeiträume hingezogen, innerhalb derer frühere Energiequellen in erheblichem Umfang fortwährend genutzt wurden und zum Teil bis heute werden. Ich denke dabei z.B. an die historische Energiewende von Wasserkraft und Holz zu Kohle, die sich im Zeitalter der Industriellen Revolution zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert abgespielt hat.
Auffallend ist daran der „long-tail“, also die Tatsache, dass Wasserkraft und Holz bis heute wichtige Energiequellen darstellen, die niemals vollständig durch Kohle ersetzt wurden. Energiewenden der Vergangenheit hatten typischerweise ihren Ursprung in günstigen lokalen Bedingungen, unter denen die neuen Energieträger verfügbar und transportierbar waren. In der gegenwärtigen Wende sind die Voraussetzungen jedoch ganz anders gelagert. Die Umstellung muss in einem kurzen Zeitraum aktiv und im Konzert einer globalen Staatengemeinschaft bewältigt werden. Das ist ein historisch beispielloses Unterfangen.
Annette Nietfeld: Was ist heute anders?
Jürgen Renn: Vor allem ist die gegenwärtige Energiewende darin einzigartig, dass sie nicht eine Antwort auf Energieknappheit oder das Versiegen von Brennmaterial ist, sondern eine Antwort auf dessen Überfluss ist. Ein Drittel der derzeit erkundeten Ölreserven, die Hälfte des Erdgases und über achtzig Prozent der Kohle müssen unangetastet bleiben, man spricht daher von „unburnable carbon“. Die Pariser Klimaziele geben das Ausmaß dieses Restbudgets für die noch zulässigen Treibhausgasemissionen vor, bevor das Energiesystem zwingend treibhausgasneutral wirtschaften muss. Die vollständige Umstellung auf Klimaneutralität muss dabei nicht nur innerhalb der nächsten 15-30 Jahre bewältigt werden. Sie muss auch ihre größten Effekte sehr rasch erzielen.
Annette Nietfeld: Können wir denn aus Ihrer Sicht aus den vergangenen Energiewenden für die gegenwärtige lernen?
Jürgen Renn: Aus meiner Sicht können wir zwei wesentliche Dinge feststellen: Erstens ist die gegenwärtige Energiewende mehr als jede ihrer Vorgängerinnen fragil und bedarf deshalb nicht nur in ihrem Anfangsstadium, sondern auch mittelfristig politisch gesetzter und global wirksamer Rahmenbedingungen. Man könnte sogar von einer „kuratierten“ Energiewende sprechen.
Zweitens können wir schließen, dass es vielleicht ausreichen könnte, wenn die notwendige Transformation zunächst für einen kleinen, aber global vernetzten Teil der Weltgesellschaft gelingt. Dieser sollte sowohl Hochtechnologie-Regionen wie starke Produzenten erneuerbarer Energie umfassen. Denn hat sich erst einmal herausgestellt, dass ein von fossilen Importen unabhängiges, nachhaltiges Energiesystem möglich und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist, verleiht ihm die prinzipiell unbegrenzte Verfügbarkeit erneuerbarer Energien eine Attraktivität und ein dynamisches Potential, die eine globale Durchsetzung der Energiewende möglich erscheinen lassen.
Annette Nietfeld: Frau Pittel, welche spezifischen Herausforderungen sind aus Ihrer Sicht mit der gegenwärtigen Energiewende verbunden?
Karen Pittel: Mit der Energiewende sind viele spezifische technische wie ökonomische Herausforderungen verbunden, die seit Jahren – ja zum Teil seit Jahrzehnten – immer wieder diskutiert werden. Wie Herr Renn schon ausführte, muss die Energiewende im Verhältnis zur Bedeutung des Energiesystems äußerst schnell und zudem noch global stattfinden. Sie involviert viele hochkomplexe, interagierende Systeme. Ohne internationale Kooperation wird sie langfristig scheitern. All diese Herausforderungen müssen und können jedoch auch überwunden werden.
Annette Nietfeld: Und an welcher Stelle stockt es dann?
Karen Pittel: Eine fundamentale Herausforderung liegt darin, dass die Energiewende nicht primär durch Marktkräfte getrieben wird. Entwicklungen von Märkten erscheinen für den Einzelnen eine gewisse Unausweichlichkeit zu besitzen. Vergangene Energiewenden wurden auch primär durch Marktkräfte getrieben; staatliche Eingriffe fanden zwar punktuell statt, steuerten aber nicht die gesamte Richtung der Entwicklung.
Die heutige Energiewende muss jedoch in ihrer Gesamtheit initiiert, begleitet und in gewissen Umfang gesteuert werden. Angesichts der großen Herausforderung des Systemumbaus und der Konsequenzen für die einzelnen Unternehmen und Bürger wird dabei nicht das Endziel einer defossilisierten Wirtschaft und Gesellschaft, sondern der Weg dorthin in Frage gestellt. Marktgetriebener Strukturwandel scheint eine Naturgewalt; die Folgen eines regulierungsgetriebenen Wandels dagegen verhandelbar.
Annette Nietfeld: Vor dem Hintergrund dessen, was wir bisher besprochen haben: Welche Rolle spielt Resilienz im heutigen im Wandel begriffenen Energiesystem?
Jürgen Renn: Wir müssen zwischen verschiedenen Arten von Resilienz unterscheiden. Zunächst ist da einmal die klassische Resilienz, im Sinn der Fähigkeit eines Systems, selbstregulierend auf Störungen zu reagieren und dabei seine Funktion zu bewahren. Das ist und bleibt im Sinne der Versorgungssicherheit eine grundlegende Eigenschaft des Energiesystems, die auch bei seinem Umbau gewährleistet bleiben muss. Was wir hier aber auch brauchen ist die Widerstandsfähigkeit des Transformationsprozesses selbst gegenüber Störungen und Krisen. Was wir dagegen überwinden müssen ist Resilienz im Sinne der Widerstände gegen einen Umbau des Energiesystems. Hier brauchen wir stattdessen eine Plastizität des Systems, der diese Beharrungskräfte oft im Wege stehen.
Annette Nietfeld: Frau Pittel, sehen Sie Konflikte, die sich zwischen der von Herrn Renn beschriebenen Resilienz und Wirtschaftlichkeit ergeben?
Karen Pittel: Aus Sicht auf das gesamte Energie- und Wirtschaftssystem stehen Resilienz und Wirtschaftlichkeit nicht im Widerspruch. Maßnahmen, die die Resilienz von Systemen erhöhen, sollen potentiell hohe Schäden – und damit Kosten – von Störungen verhindern. Aus ökonomischer Perspektive sind sie daher notwendig und mit dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit vereinbar. Die Wahrnehmung eines potentiellen Gegensatzes zwischen Resilienz und Wirtschaftlichkeit resultiert primär aus einer einzelwirtschaftlichen und kurzfristigen Betrachtung. Resilienzsteigernde Maßnahmen verursachen für den Einzelnen zunächst Kosten ohne direkt zurechenbaren Nutzen. Dies wird zum Teil als nicht wirtschaftlich wahrgenommen, entspricht aber im Grunde dem Prinzip von Versicherungen, deren Nutzen erst im Ernstfall zum Tragen kommt.
Annette Nietfeld: Eine Frage an Sie beide: Reichen Marktmechanismen noch aus, um die Klimaziele zu erreichen?
Jürgen Renn: In einem marktwirtschaftlichen System kann die CO2-Bepreisung – in einer ambitionierten Größenordnung – ein wichtiges Instrument sein, Anreize für eine globale Energiewende zu setzen. Dennoch bin ich skeptisch, dass der Markt allein das Problem einer notwendigerweise drastisch zu beschleunigenden Energiewende richten kann – dafür gibt es jedenfalls in der gesamte Energiegeschichte kein einziges Beispiel. Nötig erscheint mir vielmehr eine entschiedene Rahmensetzung entlang des klimatologisch, nicht ökonomisch, vorgegeben Limits des Treibhausgas-Restbudgets. Das bedeutet in der Konsequenz eine absolute Verknappung bzw. Kappung des noch zu verbrennenden Kohlenstoffs. Nur eine solche Maßnahme setzt, wie alle historischen und gegenwärtigen Beispiele zeigen, das System auf das richtige Gleis.
Annette Nietfeld: Und aus Ihrer Sicht, Frau Pittel?
Karen Pittel: Aus meiner Sicht beruht die Frage auf einer Fehlwahrnehmung. Sie suggeriert, dass Marktmechanismen grundsätzlich langsamer wirken als Maßnahmen, die auf Ver- oder Geboten beruhen. Dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Nehmen wir beispielsweise ein Emissionshandelssystem, wie es in Europa derzeit für knapp 50% der CO2-Emissionen etabliert ist. Ein solches System hat gerade den Vorteil, dass – wie von Herrn Renn gefordert – absolute Limits für CO2-Emissionen etabliert werden und die Unternehmen trotzdem über den CO2-Preis Signale erhalten, wo es kosteneffizient ist, Emissionen zu vermeiden.
Für die Bürger erzeugen die CO2-Preise wiederum die notwendigen Signale, um zwischen verschiedenen Konsum- und Verhaltensoptionen zu entscheiden. Der Wirkmechanismus ist dabei indirekter als bei Maßnahmen, die nicht auf Marktmechanismen beruhen, deshalb aber nicht weniger wirkungsvoll. Die Frage ist hier nicht die grundsätzliche Wirksamkeit, sondern die Höhe der Preise.
Eine Frage, die sich natürlich stellt, ist, inwieweit Marktmechanismen durch weitere Instrumente und Maßnahmen ergänzt werden sollten. Dies ist aber eine grundsätzliche Frage und nicht eine Frage der Dringlichkeit. Die Energiewende benötigt den Um- und Neubau von Infrastrukturen und den Einsatz und Erprobung neuer Technologien. Hier können temporär und gezielt eingesetzte zusätzliche Maßnahmen jenseits von Marktmechanismen helfen, den Umbau des Energiesystems zu fördern und alte Pfadabhängigkeiten zu überwinden.
Annette Nietfeld: Wo sehen Sie die Grenze zwischen sinnvoller Regulierung und Überregulierung?
Karen Pittel: Ein Eingriff durch Regulierung ist immer dann gerechtfertigt, wenn Märkte in ihrer Koordinationsfunktion zumindest partiell versagen. In einer perfekten Welt würden Preise sämtliche Kosten widerspiegeln, die der Gesellschaft aus der Produktion und dem Konsum eines Gutes entstehen. In einer perfekten Welt würden Investitionen dorthin fließen, wo sie den höchsten gesellschaftlichen Nutzen bringen. In der Realität ist dies jedoch aus verschiedenen Gründen nicht immer der Fall – auch nicht auf Energiemärkten. Energieerzeugung verursacht über Emissionen Kosten für die Gesellschaft; Unternehmen genießen eine Monopolstellung; Bürger unterschätzen zukünftige Einsparungen aus energieeffizienten Geräten, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier macht es Sinn regulierend einzugreifen.
Allerdings ist auch auf den Energiemärkten ein mehr an Regulierung nicht automatisch besser. Überregulierung findet beispielsweise dort statt, wo versucht wird mit mehreren Instrumenten simultan das gleiche Ziel zu erreichen. Dies führt zu Ineffizienzen und steigert die Gefahr, dass die Instrumente sich nicht nur konterkarieren, sondern auch zu ungewollten Nebenwirkungen auf andere Bereiche führen.
Annette Nietfeld: Kann man denn aus der Historie eine Erfolgsformel für die Verbreitung neuer Technologien und Energieträger ableiten?
Jürgen Renn: Entscheidend für die Durchsetzung neuer Energiesysteme waren fast immer strukturelle Entwicklungsvoraussetzungen, durch die erst die Voraussetzungen für die relevanten Dynamiken der Märkte geschaffen und gestaltet wurden. Ein Beispiel: Das Öl-basierte Energiesystem war sowohl in seinen globalen und geopolitischen Auswirkungen als auch im Binnenmarktbereich stets von staatlichen Interventionen begleitet. Markmechanismen waren also in jedem Falle in hohem Maße politisch konstruiert.
Zu den strukturellen Entwicklungsvoraussetzungen gehören staatliche Investitionen, Rahmensetzungen und technologische Innovationen, die erst die Plattformen geschaffen haben, auf denen sich dann „Killer applications“ wie die Dampfmaschine für die Kohle und der Verbrennungsmotor für das Erdöl durchsetzen konnten. Hierfür die geeigneten Infrastrukturen bereitzustellen, ist eine Aufgabe, an der Staat und Wirtschaft gemeinsam mitwirken müssen. Gerade mit Blick auf die zu erreichenden Klimaziele muss der Staat die Verantwortung übernehmen und feste Leitplanken setzen. Zugleich muss er jedoch Pfadabhängigkeiten minimieren und die Technologieoffenheit zulassen, die für ein möglichst effizientes Erreichen dieser Ziele notwendig ist. Nur so lassen sich die Kosten wirksam begrenzen!
Annette Nietfeld: Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Innovationshemmnisse im Energiebereich?
Karen Pittel: Der entscheidende Engpass liegt weniger in einem Mangel an Ideen und Grundlagenforschung, sondern in der Entscheidung, die im Labor funktionierenden Technologien auch auf den Markt zu bringen. Hier wird häufig vom „Tal des Todes“ im Innovationsprozess gesprochen. Wettbewerbsfähigkeit für neue Technologien benötigt Erfahrung in ihrer Anwendung, die gerade zu Beginn mit erheblichen Kosten verbunden ist, aber gleichzeitig zu erheblichen Kostendegressionen führen kann. Privatwirtschaftlich findet eine solche Markteinführung vor allem dort statt, wo zukünftige Marktchancen gesehen werden. Dies setzt allerdings ein entsprechendes Marktumfeld voraus, welches sich im Zuge der Energiewende erst in der Entwicklung befindet. Hier ist es also wichtig, bei Unternehmen die entsprechenden Erwartungen zu erzeugen, dass dieser Wandel tatsächlich stattfindet. Je höher die Unsicherheit, beispielsweise über den zukünftigen regulatorischen Rahmen, desto geringer der Anreiz in den betroffenen Technologiefeldern aktiv zu werden. Innovation benötigt also klare Perspektiven.